Günter Brus’ Kleine Narbenlehre ist eine Folge von acht bisher unpublizierten Fotografien, vom Künstler jeweils mit einem kurzen, prägnanten Text versehen. Die Bilder zeigen Günter Brus in den Tagen nach einer schweren Operation (1999), noch als Patient, seine Narben, seine diversen Verschlauchungen.
Ausgehend von dieser Bildfolge versucht Christina Lammer in diesem Buch die Nahtstelle zwischen dem selbst-bestimmten Körper des Künstlers in seinen Aktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre und seiner Fremdbestimmung im medizinischen Kontext eines Krankenhauses, in dem er operiert wurde, kenntlich zu machen. Betonte Brus in seinen Selbstbemalungen und -verletzungen die Mittellinie des eigenen Leibs, markiert fast vierzig Jahre später eine Narbe, die vom Brustbein bis zum Unterbauch reicht, als Spur einer Krebsoperation seinen Oberkörper.
Zwei Strukturen werden inhaltlich in Beziehung zu einander gesetzt: Narben und Schläuche. Aktionsskizzen und -partituren des Wiener Aktionisten werden analysiert und mit Fotos der durchgeführten Aktionen verglichen, um Aussagen über die Körpersprache sowie die Konditionierung des eigenen Leibs zu treffen. Günter Brus: »Ich war zugleich ein Anderer, stellvertretend für Körperlichkeit allgemein.« In seinen selbst verletzenden Aktionen, die er nie bis zum letzten Extrem getrieben hat, wurde der Künstler immer nackter. Die Funktion des Striches wurde vom Schnitt übernommen. Ziel war nicht bloße Verletzung, sondern ästhetisches Verlangen. Körperflüssigkeiten gerannen zu Farbe. Blau gefärbter Urin. Das Rot des Bluts. Wie wird mit dem Skalpell gemalt? Aggressivität wird im positiven Sinne eingesetzt.
die Zerreissprobe ist überstanden
aus dem Bauch speicheln Drüsensekrete
einige Fleischleibteile verschwanden
nicht die »Narbenlehre« verfasste Goethe
(aus: Kleine Narbenlehre)
Günter Brus
geboren 1938, studierte an der Akademie für angewandte Kunst in Wien; 1964 begründete er mit Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler den „Wiener Aktionismus“; seither zahlreiche Ausstellungen u.a. auf der Dokumenta in Kassel, in der Tate Gallery in London, im Centre Pompidou und im Louvre in Paris. 1996 erhielt er den Großen Österreichischen Staatspreis.
Christina Lammer
lebt und arbeitet als freischaffende Soziologin, Kommunikations- und Kulturwissenschafterin in Wien. Sie beschäftigt sich mit der Visualisierung des menschlichen Körpers in der Medizin, in der bildenden Kunst und im Film. Gegenwärtig realisiert sie an der Universitätsklinik für Radiodiagnostik in Wien ihr Habilitationsprojekt mit dem Titel: Der unSichtbare Körper.