II Ode des Blinden
Drüben raunen
die Chöre der Seher: ihre Zehen
tasten die Furchen ab,
zerstampfen aber die erdwarmen Früchte.
Worte wippen auf seiner Zunge,
er fühlt die Nähe eines Satzes.
Irislose weiße Äpfel in den Schädelhöhlen.
Keinem steht das Gesehene zu Gesicht.
Zuckende Worte wie schwengellose
Glocken im Turm über der Grotte;
Vergib dieser Stunde, denn sie
weiß nicht, was sie schlägt.
Blindschleichen schieben sich vor
Zwischen die Füße, zwischen die Leiber.
Schemen huschen durch den Milchdunst.
Er wühlt in der Asche der Stille
und bläst in den Korb voller Münder.
Bald brennt die Dunkelheit.
RüdigerGörner, geb. 1957 in Rottweil am Neckar, lebt seit 1981 als Schriftsteller und Kritiker in London und lehrt Neuere deutsche und vergleichende Literatur an der Queen Mary University of London. Gründer des Ingeborg Bachmann Centre for Austrian Literature an der University of London. Rüdiger Görner ist Träger des Deutschen Sprachpreises (2012) und des Reimar Lüst-Preises der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für sein Lebenswerk (2015).